Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.
Ernest Hemingway

Die Wohnung lädt zum gehen ein. Halbuntergeschoss, die Rolläden halb heruntergelassen, 1 Zimmer, eine Küchennische, ein Bad mit WC und Dusche. Es ist dunkel und leer. Die WC-Keramik hat gierig die Benutzung durch die zahlreichen Existenzen, die einstmals hier gewohnt haben, auf dem Weg nach unten, ja, meistens nach unten, aufgesogen und gibt den Geruch jetzt dezent, aber stetig wieder ab. Vor dem Fenster wuchern Büsche, doch das macht es nur noch schlimmer.
Joseph nähert sich schweren Schrittes, seinen Hund hinter sich ziehend, seiner Wohnung. Angenehme, ruhige Strassen mit zurückgezogenen Häusern, blühenden Büschen, die die Grundstücke zum Gehsteig abgrenzen und sorgsam gepflanzten Bäumen. Die Gegend wirkt feindselig auf ihn, er gehört nicht hierher, auf diesen Elefantenfriedhof.
Es ist 8:00 morgens, er dreht um, geht zur Bushaltestelle an der Hauptstrasse. Geschäftiges Treiben, die Strasse ein Meer von Fahrzeugen, an der Haltestelle diverse gebügelte Grautöne mit braunen Aktentaschen. Joseph stellt sich dazu, obwohl er nicht weiss, wo er hinfahren soll, er hat keine Arbeit wie all die Menschen um ihn herum. Er will nur weg, weg von dieser unendlich einsamen Wohnung. Die Trolleybusse kommen nicht, stattdessen tönt aus den rostigen Lautsprechern am Laternenmast eine Durchsage: „Wegen eines Defektes an den Oberleitungen im gesamten Stadtbereich verkehren heute keine Busse!“ Hektik bricht aus, es wird auf die Uhr geschaut und in alle Richtungen davongelaufen. Joseph kann das egal sein, er begibt sich Richtung der grossen Brücke, die den trägen und braunen Fluss überspannt und zum alten Neubauviertel führt. Nun ist die Hauptstrasse menschenleer, das Fahrzeugmeer im Nichts verebbt, ab und an passiert ein gnadenlos überladener Dacia, der schon längst sein Leben ausgehaucht hat und eine schwarze Wolke nach sich zieht.
Das alte Neubauviertel kündigt sich durch langsam endende Asphaltierung der Strasse an, heruntergekommene Einfamilienhäuser aus der Vorkriegszeit lehnen sich müde gegen Plattenbau-Gerippe, die doch nie fertiggestellt werden und dazwischen immer wieder verwilderte Lücken und riesige, ausgehobene Baugruben. Periodisch bellt ein Hund und in der Ferne sieht er eine Gruppe spielender Kinder. Er hält auf sie zu, um festzustellen, dass es Erwachsene sind – und mitten unter ihnen Katharina. Der Kloß im Hals droht ihn zu zerreissen, es zerren euphorische Freude und lähmende Angst an ihm. Da löst sich Katharina aus der Gruppe und läuft lächelnd auf ihn zu, umarmt ihn und schaut ihn mit ihrem betörendsten Augenaufschlag an.
„Komm‘,lass‘ uns baden gehen!“ – sie deutet auf eine riesige, ausgehobene Baugrube, die voll Wasser gelaufen ist. „Nur wir beide. Und wenn Du nett bist, gehen wir danach zu mir!“ Alles dreht sich, er sieht sie in kindlicher Freude losrennen und nimmt die Beine in die Hand. Über Bauschutt und Dornenbüsche entfernt sie sich jedoch immer mehr, er kann gerade noch erkennen, wo sie das Ufer des Baggersees hinabklettert. Als Joseph die Stelle erreicht hat, steigt Katharina gerade, nackt und unschuldig, mit einem Unbekannten aus dem Wasser, winkt ihm fröhlich zu und verschwindet. Joseph ist gelähmt. Er spürt den wedelnden Schwanz seines Hundes am Hosenbein und schaut leer in die Richtung, in die Katharina verschwand.
Er spürt einen heftigen Biss am Gesäss, zwei Strassenköter, die sich auf ihn stürzen – und sein Hund, ja, er hat keinen, nur seinen Kater auf dem Arm, der vor Angst seine Krallen in Josephs Fleisch gräbt. Er verjagt die Hunde mit einem herumliegenden Stück Rohrleitung und begibt sich kraftlos zurück zur Hauptstrasse, langsam den Kater streichelnd. Beim Blick zurück auf das Viertel sieht er das, was es ist: ein hässliches Stück Erde, menschenleer und leblos, begonnen und nie zu Ende geführt.

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