Seit Menschengedenken träumen wir von Zeitreisen und meinen gleichzeitig zu wissen, dass sie unmöglich sind… dabei tun sich gelegentlich Wurmlöcher direkt vor unseren Augen auf, wir müssen nur hinschauen.
(Originalartikel bei DriveTribe – ursprünglich auf Englisch)
Diese Geschichte handelt von einem – und von Stil… und Würde… und dem Wandel der Zeit, der manchen von uns hinter sich lässt. Was kann man schon tun, wenn man den Anschluss verloren hat? Hinterherhetzen? Nein, ruhig bleiben, bei sich bleiben – wie dieser Mercedes samt Besitzer. Man sieht sie durch Hamburg streifen, der Besitzer scheint früher im Milieu tätig gewesen zu sein und wenn man ihn sieht, weiss man, dass das große Geschäft lange vorbei ist. Es muss irgendwann in den späten 70ern oder frühen 80ern gewesen sein, kurz bevor die organisierte Kriminalität und ausländische Gangs das Sex- und Nachtclub-Geschäft komplett übernommen haben… er gehörte nicht zu dieser Gattung, also zog er sich zurück und hielt die Zeit an. Setzte des Menschen Wunsch nach Stabilität und Verlässlichkeit in die Tat um, einfach so.
Seine Erscheinung ist durchaus elegant – auf eine sehr altmodische Weise. Manch ein großstädtisches Modeopfer wird geneigt sein, ihn nach der Bezugsquelle dieses oder jenes Kleidungsstücks zu fragen, wenn das, was er anhat zufällig gerade wieder in ist und sich die Hipsteria danach verzehrt. Andererseits… haftet seinem Erscheinungsbild auch etwas leicht „schmieriges“ an, mit diesen Plateausohlen und der Frisiercreme im Haar. Keines von beidem. Er ist einfach authentisch, das Abbild eines typischen Mannes von vor 40 Jahren – der irgendwo einen geheimen Restbestand dieses ganzen Zeugs von vorgestern gebunkert hat… die Selbstverständlichkeit und der Stolz, mit der er es trägt untermauert die Theorie von der Relativität der Zeit.
Aber uns geht’s um das Auto, nicht? Werfen wir einen Blick darauf: ein vor-’65er Mercedes-Benz 220 SEb Coupé, etwa 25-30 Jahre jünger als sein Besitzer. Und es ist gut möglich, dass er den mondänen Benz neu gekauft hat – damals, in seiner glorreichen Zeit… Blick zurück ins Jetzt: den Wagen umgibt immer noch die Aura sonniger Küstenstrassen an der Côte d’Azur, dem süssen Leben mit gutem Wein und schönen Frauen, kurz – die Aura des Mondänen. Der zweite Blick offenbart, dass die Zeiten vorbei sind – für immer! Die Côte d’Azur ist voller funktionsbekleideter oder halbnackter Touristen und Angst, von Frauen erntest Du ein „Sexist!“, wenn Du Ihre Schönheit mit einem Kompliment bedenkst (auch bemühen sie sich dementsprechend, nicht mehr schön zu sein) und das Fahren eines Mercedes ist mindestens ein kolonialistischer Gewaltakt und/oder ein Zeichen von Ignoranz gegenüber dem Klimawandel…
Geparkt zwischen aerodynamischen Seifenkisten, strahlt der Wagen wie eine blasse, aber immer noch glühende, cremefarbene Sonne, traurig und entrückt aus der Zeit gefallen. Er kauert tief – aber keineswegs wie ein unsäglicher Lowrider oder diese kindisch tiefergelegten Proletenkisten – mehr wie eine spielerische Einladung zur gemeinsamen Ausfahrt. Er ruft Dich mit subtiler Stimme – „lass‘ und zusammen über den Asphalt fliegen, angemessen schnell, ich achte auf Dich und wir werden ganz sicher kein Vollgas brauchen…“. Ein Sirenengesang aus vergangenen Tagen – denn, schau‘ Dich um: Stau. Dann schaust Du den Wagen genauer an und siehst diese dunklen Schatten im cremefarbenen Blechkleid, grau, verstörend, eigentlich rundherum. Noch können sie ihn nicht vom Strahlen abhalten, die Klauen des automobilen Hades – aber sie greifen nach ihm, versuchen, ihn aus dieser Welt zu reissen, zurück in seine Zeit. Rost, notdürftig überpinselter Rost überall. Der Lack, weit von perfektem Zustand entfernt, ist mehr eine verzweifelte Selbstverteidigung im Wissen, dass alles Leben ein Ende hat.
Manchmal brechen die Rostklauen durch Lack und Grundierung und künden auf hässliche Weise vom nahenden Ende – dann wiederum, einige Wochen später, sind sie unter selbstverteidigendem Lack-Provisorium verschwunden, während der originale Crème-Ton immer weiter zurückgedrängt wird. Tritt näher heran, und das Erste, was Dir im Innenraum auffallen wird, sind die Sitze. Objektiv betrachtet sind sie… nun, am Ende? Vermutlich existiert das Bild der Originalbezüge nur in Deiner Vostellung – es muss schwarzes, perforiertes Leder gewesen sein. Was Du hingegen siehst, ist Panzerband, die Bezüge bestehen faktisch komplett aus Panzerband, sauber Streifen für Streifen abgeklebt. Deine Augen wandern hinüber zum Armaturenbrett – eine wunderschöne Sammlung von Instrumenten für den Herrenfahrer, überdacht von… ja, was war das früher eigentlich? Nun ist es eine narbige, braune Oberfläche, von der Sonne verbrannt wie die Haut eines alten Hirten und wahrhaftiger als jeder solariumgebräunte Großstadt-Opa. Das Lenkrad hingegen verströmt Neuzustand, poliert von unzähligen Handgriffen seines Besitzers… und der gesamte Innenraum ist sauber, kein Müll am Boden, keine Krümel auf den Sitzen.
Dieser Wagen bettelt nicht um Gnade, er ist blechgewordene Würde, trägt die Spuren seines Lebens mit Stolz und ohne seinen Anspruch an Sauberkeit und smartem Erscheinungsbild aufzugeben. Das i-Tüpfelchen dieser Aura liefern die Gegenstände, die Du auf dem Beifahrersitz erspähst – in der Tat das Einzige, was herumliegt: eine alte Ledertasche, eine Flasche und ein paar perforierte Lederhandschuhe. Diese Bild könnte aus einer trendigen Werbeabteilung stammen – tut es nicht, es ist authentisch. Dahinter verbirgt sich kein Selbstdarsteller, der die Flohmärkte nach „vintage“ abgrast und bedeutungsschwangere Autofahrer-Handschuhe gut sichtbar auf dem Armaturenbrett seines perfekt (fremd)restaurierten Porsche plaziert, um jedem zu zeigen, wie sportlich und trendig und stilbewusst er ist. Unser Mann trägt die Handschuhe, weil er damit das glatte Lenkrad besser in der Hand hat – und weil sie den Schweiss aufnehmen. Dafür wurden sie gemacht. Pure Funktion, unverfälschter Stil.
Kehren wir auf den Boden der Tatsachen zurück… der Rost, die verbrannte und mit Klebeband geflickte Innenausstattung… wie steht es um die Technik? Der Besitzer nähert sich und schliesst die Tür mit einem satten „Klack“ auf. Sein Körperbau ist durchschnittlich, etwa 80-90 kg, und obwohl fast jedes serienmässige Fahrzeug beim Einsteigen ein bisschen in die Knie geht, empfängt ihn der Benz mit nur minimalem Wanken… die Federung scheint frisch und straff. Als die Tür mit sattem Panzerklang ins Schloss fällt – ich höre es von der gegenüberliegenden Strassenseite aus – schaue ich ungläubig auf die Rostflecken und verbleibe tief beeindruckt. Bemerkenswert auch, dass Windschutzscheibe und Schiebedach bei Schliessen der Tür nicht pumpen – eine Randnotiz mit großer Bedeutung: dieses Auto lebt. Im Gegensatz zu modernen Seifenkisten mit ausgeklügelter Dämmung entsteht kein Überdruck, der Wagen atmet – Luft kommt rein, Luft entweicht, das Spiel des Lebens.
Der Besitzer hat Platz genommen, nun nimmt er sich Zeit: Ledertasche auf den Beifahrersitz ablegen, Handschuhe überstreifen, Schlüssel ins Zündschloss… und dann… Zeit für Fakten. Sind die beiden jene symbiotische Gentleman-Express-Zeitmaschine, die meine Fantasie beflügelt hat, oder ist es doch nur ein alter Mann in seinem hustenden Wrack? Der Reihensechszylinder startet spontan mit einem sonoren Röhren – nicht das aggressive eines Rennmotors, eher ein selbstbewusstes, krätiges „ja!“… und auch „ja, mein Auspuff hat ein- oder zwei kleine Löcher, aber schau‘ mich an – das ist nunmal mein Alter, das bin ich!“
Keine Chimäre, nein, dieses Duo ist tatsächlich besagte Zeitmaschine. Mit sattem Klang rastet der erste Gang ein, ein kleiner Gasstoß und sie fliegen davon… verdammt zügig für die aus heutiger Sicht dürftigen 125 PS… Sie hinterlassen einen leeren Parkplatz inmitten emotionsloser, stinkender Diesel-Seifenkisten. WARP, Wurmloch geschlossen.
Das letzte Mal sah ich die beiden vor nunmehr 2 Jahren – und objektiv steht zu befürchten, dass die Rostklauen den Benz aus der Gegenwart gerissen haben. Doch so darf diese Geschichte nicht enden. Das Wurmloch, durch das sie damals röhrend verschwanden, hat sie an die Côte d’Azur geführt – nein, nicht die heutige, von Staus und drösigen Touristen geplagte… sondern DIE Côte d’Azur, wo sie auf der Küstenstrasse sanft schwingend eine einsame Ente überholen, auf dem Weg zu einer schattigen Bar am Meer, wo der Benz knisternd abkühlt, während sein Besitzer ein Pichet Rotwein geniesst und der schönen Frau am Strand zurückwinkt. Sie freut sich, ihn zu sehen – und auch, dass er sich an ihrem Anblick erfreut. So einfach. Und eines Tages, ganz vielleicht, wird sich das Wurmloch plötzlich wieder vor mir auftun – und diesmal werde ich die Gelegenheit wahrnehmen, mit dem Mann aus der Vergangenheit zu sprechen… auf dass er mich auf einen Spaziergang in seine Welt mitnimmt. Ja, so wird es sein, ganz sicher.
Jürgen Geißler
Was für ein wunderschöner Bericht. Oder darf ich sagen was für eine wunderschöne Geschichte. So wunderbar. Und jedes Wort kann ich unterschreiben. Ganz großes Lob von meiner Seite. Und so ein Wagen macht viel mehr her als die ganzen überrestaurierten, besser als neu mit dem Geldbeutel gemachten Fahrzeuge. Es ist aber auch eine traurige Geschichte, eine sentimentale. Aus einer Zeit welche definitiv vorbei ist. Leider. Und nein, früher war nicht alles schlechter. Vielen Dank für diesen schönen Bericht.